Es ist Sommer. Draußen ist es heiß, die Fenster weit aufgerissen.
Es ist Mittagszeit. Der Tisch abgeräumt, das Geschirr abgewaschen. Erst, wenn alles ordentlich ist, hat die Mutter einen Sinn für die Verrücktheiten ihrer drei Kinder, zwei Teenager (die sich so noch nicht genannt hätten) und ein kleines Mädchen, dem kurz vor Eintritt in die Schule die Zöpfe abgeschnitten und zu einem praktischen Pagenkopf gerichtet wurden.
Der Junge, schon gegen Ende des Gymnasiums, hat den Fernseher eingeschaltet, wo das Testbild (das falsche) läuft, was langweilig wäre, liefe da nicht über die Tonspur „NDR2 nach der Schule“.
Der Junge nimmt seine zwei Jahre jüngere Schwester und schleudert sie zur Musik durchs Wohnzimmer. Die Kleine springt drumherum und ist nicht minder begeistert.
Später, als der Fernseher wieder auf den richtigen Sender und ausgestellt ist, sitzen die beiden Großen auf den breiten Fensterbänken und singen die Lieder, die sie eben hörten, noch einmal.
Die Kleine wird diese zuweilen erstaunlich hohe Stimme ihres ziemlich erwachsenen Bruders ihr Leben lang nicht vergessen. Ebenso wenig wie die Musik, die ihr damals unter die Haut geschrieben wurde. Eine ganz neue, besondere Musik, die schön war.
(Das findet sie noch heute.)
Ein paar Jahre später, die Kleine war ein ziemlich frischer Teenager (und hätte sich auch nicht so genannt), trennten sich die Beatles und sie wurde von einer merkwürdigen Traurigkeit erfasst. Konnte es sein, dass es nie wieder etwas Neues von diesen großartigen Musikern geben würde? (Sie verstand plötzlich, warum ihre Mutter damals beim Tod Kennedys Tränen vergossen hatte, obwohl sie ihn gar nicht kannte.)
Ein paar weitere Jahre später ist der große Bruder, der zwischenzeitlich auswärts studiert, geheiratet und einen Sohn bekommen hat, wieder da. Er belegt das Zimmer, das die Kleine sich schon als das ihre ausgemalt hatte, weil er jetzt hier studiert. Unter der Woche führt er ein studentisches Lotterleben, am Wochenende fährt er zu Frau und Kind. Dann darf sie das Zimmer bewohnen. Genau zwei Tage lang. Mit allem, was er sich so an Annehmlichkeiten beigeschafft hat. Dass sie an seine Zigarettenvorräte geht, indem sie mit äußerstem Geschick erst die Zellophanverpackung und dann die Banderole öffnet (hernach natürlich wieder verschließt), wird er erst sehr viel später merken, weil er immer nur eine Seite der Verpackung aufmacht und lange nicht merkt, dass in der Mitte zwei Zigaretten fehlen. Dass sie auf seinem Kofferradio nachts den Soldatensender mit dieser großartigen Musik hört (erst später wird man erfahren, dass dieser so westlich aufgemachte Sender ein DDR-Sender ist, der wen auch immer propagandistisch untergraben soll), merkt er hingegen sehr schnell: Sie ist irgendwann einmal eingeschlafen und morgens war die Batterie alle. Keine Zeit, bis zu seiner Rückkehr eine neue zu besorgen.
Als John Lennon stirbt, ist die Kleine zu erwachsen, um noch zu weinen. Sie findet es traurig, ja, das schon. So jung sollte keiner sterben.
Aber richtig traurig ist sie, als ihr Bruder, mit dem sie über diese Feiertage – zum Glück! – täglich telefonierte (Er sagte: „Es ging mir schon mal besser!“ ) zu Jahresbeginn stirbt. Schon als sie ihn nach Weihnachten besucht, erkennt er sie nicht, verwechselt sie vielmehr mit der Schwester, der die Kleine zwar ähnlich sieht, die ihm aber viel näher stand. Aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit aufwachend, wird er sagen: „Die … war da?“
Die Hälfte seines Lebens sah er aus wie John Lennon, ein bissel der Gene wegen, ein bissel mit Absicht. Sogar noch auf dem Totenbett.
Bei seiner Trauerfeier spielten sie Müller-Westernhagen, was ich unpassend fand. Es hätte, denke ich noch heute, etwas von den Beatles sein sollen. Vielleicht „Yesterday“. Ja, das hätte gepasst. Das war seine glücklichste Zeit. So unbeschwert wie damals vor dem Fernseher mit Testbild sah ich ihn nie wieder. Und so viel älter als John Lennon ist er ja auch nicht geworden.