Behütete Kinder

Auf Phoenix sah ich beim Durchknöpfeln eine Frau, die über Kinder berichtete. Nicht wegen Corona, sondern ganz allgemein. Sie sagte, dass zwischen 1950 und irgendwann Kinder in Kurheime geschickt worden seien, wo man alles andere als kindgerecht mit ihnen umgegangen sei.

Kinder seien dort geschlagen, gequält und zum Essen gezwungen worden. Nicht einmal, wenn sie sich auf den Teller erbrochen hätten, wären die Erzieher/innen beeindruckt gewesen.

Ich erinnere mich, dass auch unsere Mutter die Angewohnheit hatte, mich regelmäßig irgendwo hin zu schicken. Kinderkurheim, Ferienlager. Für mich machte das keinen so großen Unterschied. Ich fand beides nicht so doll, erinnere mich aber, dass Kinderkurheime tatsächlich einen Ticken schlimmer waren.

Das erste Mal, mit neun, wurde ich an die Ostsee geschickt. Und zwar gerade zu der Zeit in der ich Geburtstag hatte. Meine Eltern hatten mir zum Geburtstag ein Päckchen mit Süßigkeiten geschickt, das um den Tisch herum gereicht wurde. Und jeder durfte sich etwas nehmen. Als das Päckchen schließlich bei mir, dem Geburtstagskind, ankam, war es leer.

Im gleichen Kurheim warteten wir Kinder sehnsüchtig, dass wir, so nahe am Strand, endlich einmal ins Wasser durften. Es ging die Rede, dass das erst möglich sei, wenn die Luft 20 Grad warm sei. Endlich kam der Tag, an dem alles passte, es war der vorletzte, aber wir gingen nicht an den Strand, sondern unter sengender Sonne Heidelbeeren pflücken.

In einem anderen Lager  Heim, ich war inzwischen zwölf, blieb die Erzieherin tatsächlich so lange mit mir, die ich kein unterernährtes Kind war, im Speisesaal sitzen, bis ich das ungewohnte Essen auf den Teller erbrach. Dies schien sie zufrieden zu stellen. Als ich, kurz zuvor, mit eben der gleichen Übelkeit in die Toilette rennen wollte, hielt sie mich fest und sagte so etwas wie dass ich hier keine Show abziehen sollte.

Ich WEISS diese Dinge noch. Ich fand sie damals fürchterlich und kann sie auch heute noch nicht gutheißen. Jedoch haben sie mir nicht so nachhaltig geschadet, dass ich da auf irgendeine Aufarbeitung drängen würde.

Sowieso frage ich mich, wem die Aufarbeitung von so etwas nützt. Gesetzt den Fall, ich hätte tatsächlich einen Schaden davon getragen … was sollte da eine Aufarbeitung korrigieren können? Die Lebensjahre sind vorbei und wären im Schadensfall halt deutlich anders gewesen als ohne diese Sachen. Wem denn wäre geholfen, wenn man einvernehmlich feststellt, dass das wirklich Scheiße war? Was es sicherlich war.

Es könnte ja doch heute nicht mehr vorkommen, weil einerseits kaum noch Kinder irgendwo hin alleine fahren. Und wenn, sie sofort ihre Handys zücken und Mama anrufen würden. Die sich allsogleich, egal zu welcher Tageszeit, auf den Weg und ein Mordstheater machen würde. Sowieso fahren Kinder heute zumeist mit ihren Müttern in Kur, egal wer eine braucht, ob nun die Mutter oder die Kinder. Mama ist immer dabei.

Schon wahr, die Zeiten damals waren härter. Kinder sind allein draußen spielen gewesen, haben sich gar geprügelt. Was ich hasste, aber doch auch nicht vermeiden konnte.

Vermeiden kann ich lediglich, und das tue ich wacker, die „Befreundung“ mit D.H. auf dieser Schulwebsite, der sich wirklich ständig und mit Jedermann prügelte und vor dem wir alle Angst hatten. Heute natürlich weiß ich, dass der es auch nicht leicht hatte. So allein mit seiner berufstätigen Mutter, die kaum Zeit für ihn hatte und vermutlich öfters mal unleidlich war, denn gut in der Schule war er auch nicht. Sehe ich heute das Bild von ihm, ahne ich, dass er von dieser Kindheit Schaden genommen hat und kriege Mitleid. Was nichts daran ändert, dass ich mit ihm nichts zu tun haben will.

Ich mache meiner Mutter keinen Vorwurf, mich in diese schrecklichen Lager Heime geschickt zu haben. Dort war ja nicht alles schlecht. Wir haben viel unternommen (Trockenbürsten und Kaltwaschen habe ich gerade letzthin wieder für mich entdeckt) und viel gesehen, was unsere Eltern uns nicht hätten bieten können. Und außerdem verstehe ich, dass es eine Erleichterung war, bei damals immerhin noch drei Kindern in einer zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gelegentlich eines mal für ein paar Stunden oder bestenfalls Wochen fortschicken zu können.

Ich verstehe vieles, aber noch am Wenigsten, dass erwachsene Menschen, die ich – im Phoenix-Bericht hängen geblieben – auch sah, noch Jahrzehnte später akribisch Unterlagen dieser Kindheitserlebnisse aufblättern und … ja, was eigentlich sich erhoffen?

Der Begriff Resilienz kommt mir, die auch ich allerhand andere kindliche Missbefindlichkeiten erinnere, in den Sinn. Wer so nachhaltig leidet unter Dingen, die Jahrzehnte her sind, fehlten dem die psychischen Ressourcen, seinem ehemaligen Leid etwas Besseres, Positiveres, Sinnstiftenderes entgegen zu setzen?

Keine Ahnung. Neben einem Bedauern ist da auch Unverständnis.

 

 

 

Sonntags

Es ist nicht wahr, dass in diesen Tagen jeder Tag ein Sonntag ist.

Denn Homeoffice ist auch arbeiten. Eigentlich noch mehr. In Woche soundsoviel habe ich wenigstens gelernt, die Sache wieder wie einen Job zu behandeln. Ich setze mich morgens, geduscht oder nicht, mehrheitlich aber schon, weil frau sich das schuldig ist, an die Kiste und schaffe durch bis die tägliche Stundenanzahl geschafft ist. Das war nicht immer so. Anfangs guckte ich mal nach den Pflanzen draußen, kochte zwischendurch oder ging auch mal einkaufen. Mit dem Resultat, dass ich die Zeit aus den Augen verlor und am Ende mehr arbeitete als ich wirklich gemusst hätte. Weil man ja das in einen gesetzte Vertrauen rechtfertigen muss.

Erst als die Chefin dennoch maulte, dachte ich: Dann eben nicht.

Inzwischen ist mir egal, ob die Technik schnell oder langsam läuft. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Ich tue nach der Uhr. Und mache Feierabend nach der Uhr.

Und so ist ein Feiertag ein willkommener zusätzlicher freier Tag. Und ein Samstag ist ein Tag, an dem man einkaufen gehen kann, aber nicht muss, weil von allem mehr als genug da ist (selbst das Klopapier stapelt sich inzwischen wieder in den Supermarktregalen). Und der Sonntag ist der Tag der Kultur. Immer schon.

Die inzwischen dicker gewordene Frau könnte sich vor die Staffelei stellen, was sie sich schon seit einer Reihe von Tagen vorgenommen hat. Aber als sie das das letzte Mal versuchte (da war es draußen noch richtig warm und ein Luxus, auf dem Balkon zu malen), kam nix Gescheites dabei raus. Man kann sich nicht einfach hinstellen und etwas machen; man muss mit der Seele dabei sein. Da fehlt´s gerade eben.

„Draußen hängt die Welt in Fetzen,

lass uns drinnen Speck ansetzen.“ (Fritz Eckenga Rettungsreime Kunstmann 2002)

kommt mir in den Sinn.

Der Blick auf die Waage dieser Tage war erschreckend. Beim Hochwasser würde man es „Höchststände“ nennen.

Ich setze mich also vor die Kiste, spiele ein, zwei, drei Runden 3D-Mahjong, was ich dieser Tage oft tat; mein Spielstand hat sich deutlich verbessert. Denke auf dem Klo, das durch die neue Lampe viel besser ausgeleuchtet ist und jeden Makel erkennen lässt, darüber nach, wie Ordnung herzustellen ist. Suche hernach im Netz nach Lösungen, die so übel nicht aussehen und erschwinglich sind. (Mit dem Kauf zögere ich noch. Drum prüfe, wer sich ewig bindet …). Dieses Telekop-Dingens sieht ganz ok aus, wären da nicht die Plastikschalen. Metall wiederum (auch da gibt es etwas durchaus Praktisches) läuft nach kurzer Zeit an.

Keine Entscheidungen heute.

Im Fernsehen höre ich (Blick auf die vierte Runde Mahjong), dass Ulysses das Buch zur Zeit ist. 1140 Seiten oder 38 Stunden Hörtext, die einen einzigen Tag beschreiben, entsprächen ziemlich gut der entschleunigten Lebensweise, wie wir sie gerade durchmachen. Ich bin schon nach der Hörprobe erschöpft. Nein, nein und nein, frau sollte sich nie und nimmer etwas antun, nur weil MAN das eben mal gemacht haben muss.

Während ich mir etwas zu Essen machen, fällt mir eine durchaus wertige Verwendung der drei Erdbeeren ein, die da noch herumliegen. War da nicht diese Sache mit Pfeffer und Co., mittels derer man die Erdbeeren auch zu herzhaften Sachen verwenden konnte? Beim Anrühren fällt mir dieses Buch ein, das ich hörte, als ich das zum ersten Mal probierte. Also das mit den Erdbeeren. Ich schaue mir beim Essen in der Kiste an, wer das noch gleich geschrieben hat. War eigentlich ganz nett. Vielleicht hat die Schreiberin inzwischen etwas Neues gemacht? Stelle fest, dass das Buch vom Tatortreiniger gelesen wurde, den ich damals noch gar nicht, inzwischen jedoch doppelt kenne, nämlich auch als leicht vertrottelten Dorfpolizisten.

Erstaunlich, wie manche Dinge so lange verweigert werden und erst sehr spät eine gewisse Bedeutung erlangen.

Gestern hörte ich die Teile des letzten Buches* an, die ich letzthin verschlafen hatte. Es tat der Sache zunächst keinen Abbruch. Ich wollte wissen, wie es ausgeht und war eigentlich nicht darauf gefasst gewesen, einen Weltuntergangsroman zu hören.

Am Ende ging die Welt nicht unter. Die Menschen hatten, ähnlich wie wir heute, die Fassung bewahrt und all das.

Und noch immer konnte ich mich nicht für ein neues Buch entscheiden. Inzwischen habe ich schon zwei Guthaben. Das ist mir noch nie passiert.

Ach, auch egal.

Draußen

hängt

die

Welt

in

Fetzen,

lass

uns

drinnen

Speck

ansetzen.

 

 

*Der Wal und das Ende der Welt
Autor: John Ironmonger Argon-Verlag 2019