Das Unbenehmen von Flüchtlingen und anderen

Erst wollte ich ja auf einen Blog antworten, aber dann wurde mir klar, dass meine Gedanken viel weiter kreisen als um die ewig gleiche Flüchtlingssache. Ein wenig komplexer ist das alles schon.

Anfangen hat das … ja, wo eigentlich?

-Als ich vor irgendwas über dreißig Jahren diesen Zehnjährigen sah, wie er aus der Straßenbahn heraus die Passanten mit Kirschkernen bespuckte? Ein ziemlich deutsches Kind in der deutschen Provinz (ok., es gab eine Straßenbahn), das ganz sicher noch nie einen Flüchtling gesehen hatte. Wie kam das auf solche Ideen? Und wie kam das, dass alle in der Bahn (und die war voll) sich quasi heimlich tuschelnd aufregten, aber keiner etwas sagte? Inklusive Straßenbahnfahrer, an dessen Stelle ich das Kerlchen rausgeschmissen hätte.

-Als ich vor ein paar Jahren eine junge Friseurin bei ihrer Geschäftseröfnnung sah, wie sie ihrem im (eigens für ihn hin gestellten) Sessel sitzenden Großvater die Hände küsste. Einen kurzen Moment lang dachte ich, dass ich jetzt aufs Händeküssen keinen großen Wert legen, mich aber über etwas Respekt von jüngeren Menschen, insbesondere aus dem Ausland, freuen würde. Diesen Gedanken hätte ich nicht gehabt, wäre mir nicht schon so manch respektloser Umgang untergekommen. (Und dabei rede ich nicht von jenem Südsüdeuropäer, der mir vor Jahren im Büro angekündigt hat, er würde mich aus dem Fenster schmeißen, das der sommerlichen Temperaturen wegen einladend offen stand.)

– Als ich erst gestern Abend ein paar Jugendlichen unter meinem Balkon mit ihrem Ghettoblaster klar machte, dass hier Leute wohnen. Und – man höre und staune – erleben durfte, dass sie erschraken, sich entschuldigten und weiterzogen. Sie dachten, dass sei eine abends unbelebte Geschäftsstraße. Kann passieren. Was DARAN so erstaunlich ist? Hm, ich rechne mit solchen Reaktionen seit ein paar Jahren schon nicht mehr. Das grenzte ja an Wohlerzogenheit, die ich im Grunde schwer vermisse.

Man ahnt, dass zwischen diesen Jahren und Jahrzehnten sehr viel mehr liegt als nur diese drei Sachen.

Ich erinnere mich, wie meine Schwester, ihres Zeichens Grundschullehrerin mir vor ein paar Jahren erleichtert kund tat, dass sie „zum Glück!“ aus der ganzen Sache raus sei. Sie hatte ihre „kleinen Süßen“ immer geliebt und die fröhlichen Begebenheiten stets voller Zuneigung zum Besten gegeben.

Wann denn hatte das bei ihr angefangen?

Als dieser eine kleine, in der Schule nicht besonders gute Frechdachs ihr auf ihre roten Schmetterlings- („gut gemacht!“;) und blauen Mäuschenstempel („streng dich ein bissel mehr an!“;) sagte: „Na, und? sind doch bloß Stempel.“ Sie wusste noch, dass sie in diesem Moment sogar ein bisschen stolz auf ihn gewesen war, weil er das System so clever durchschaute, spürte aber ein erstes Unbehagen. Denn so viele Mittel und Möglichkeiten hat so eine Lehrerin nicht, auf die Kinder positiv einzuwirken. (Ich hingegen frage mich, warum, wenn der Kerl so clever war, er seinen Verstand nicht auf bessere Schulleistungen verwendet hat. Fast könnte man denken, in Wahrheit hat irgendwann so ein Elter gesagt, dass das „bloß Stempel“ seien.)

Extrem unangenehm sei es geworden, als die Juristeneltern (oder die, die einen Juristen kennen) alleweil in die Schule gerannt kamen und um jede Note(schon bei der „2“ beginnend) zu feilschen begannen. Schon in der zweiten Klasse. Und mit Klage drohten.

Kann man gegen Schulnoten in der Grundschule klagen? Die Frage stellt sich da nicht. Kein Lehrer und kein Direktor fühlt sich berufen, auch noch die Eltern auf die Schulbank zu setzen, und sei es nur in Sachen Erziehung.

Und dann fällt mir eine Geschichte aus meiner eigenen Kindheit ein: Im Urlaub fuhren wir fast immer nach Ungarn und waren in den Städten mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Ich (damals 8 oder 9) kannte es nicht anders, als dass Kinder nur dann einen eigenen Sitzplatz haben dürfen, wenn alle älteren schon einen Platz haben. Bei jeder Haltestelle sprang ich auf wie eine Eins, sobald ältere Leute einstiegen. Und wenn man 8 oder neun ist, ist so ziemlich jeder älter als man selbst. Mit der Zeit aber mussten wir erleben, dass ICH aufsprang und mitfahrende Mütter ihre Kinder auf meinen Platz setzten, dabei aber die wirklich alten Leute stehen ließen. Wir fanden das schamlos. Irgendwann sagte meine Mutter, als ich ein weiteres Mal aufspringen wollte, ich könne ruhig sitzenbleiben. Es sei hier wohl nicht üblich, dass man älteren Leuten seinen Platz anböte.

Eine wirklich alte Dame, die das hörte (und Deutsch verstand!), lächelte freundlich und sagte, dass es doch schön wäre, wenn die Ungarn andere, noch dazu so respektvolle Gesten sehen und lernen würde.

Dieses Erlebnis blieb für meine Mutter und mich wohl für lange Zeit eine der peinlichsten Gegebenheiten, die wir gemeinsam erlebt hatten.

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Was ich mit all dem sagen will?

Es ist noch nicht sicher, wer welches Unbenehmen von wem lernt.

Deutsche Eltern haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten schwer nachgelassen und tun sich schwer mit der Gratwanderung zwischen freier Erziehung (Erziehung überhaupt) und Konsequenz. Wo, wenn nicht im Elternhaus sollen Kinder denn lernen, was richtig und falsch ist? Der Schule und allen möglichen Kinderaufbewahrungen kann und darf man diese Aufgaben nur bedingt auflasten, denn diese müssen immer mit dem Veto der Eltern rechnen.

Ich stelle mir vor, wie so ein türkisches Mädchen, das die Friseurin dermaleinst war, im Bus sah, dass die deutschen Kinder nicht nur nicht aufstehen, wenn Ältere einstiegen, sondern sogar ihre Schultasche auf dem Nachbarsitz stehen ließen, ohne auch nur den Hauch eines Gedankens, dass da dieser ältere Mensch doch sitzen könnte. Und ich habe im Ohr die türkischen Eltern, die irgendwann zu ihrem aufspringenden Kind sagen: „Lass mal, das scheint hier nicht üblich zu sein.“

Level 24

Ältere Leute werden heute allgemein NOCH älter als früher. Sagt man.

Das Problem ist nur, dass ihnen keiner versprochen hat, dies bei guter Gesundheit und klarem Verstand zu vollbringen. Am Ende des Weges lauert die Demenz. Von Krankheiten des Körpers ganz zu schweigen.

Also: Sorgen Sie gut für sich! Halten Sie den Geist in Bewegung. Der Rest ist schon auch ein bisschen Glück.

Jeder hat da so seine Methoden.

ICH habe mich für Mahjong entschieden, schon vor Jahren. Das trainiert einerseits die Merkfähigkeit, andererseits entspannt es den Geist.

Also gut. Es KÖNNTE entspannen, wäre da nicht der Zeitdruck, den einem viele Spielvarianten auferlegen. Denn, natürlich, spiele ich nicht, tat es noch nie, mit klassischen Steinen. Ich spiele im Netz. Da schon, anfänglich, mit klassischen Steinen, aber immer mit Zählwerk im Nacken.

Entspricht das dem Geist des Spiels?

Egal. Irgendwann war ich gut, landete am Ende und es ist ziemlich blöd, wenn am Ende (man hat einen Lauf!) nichts mehr weiter geht. Pfeif auf irgendwelche Gratulationen und den Hinweis, dass man gut gespielt hat. Kann ich mir nix für kaufen.

Also sucht man ein anderes Spiel. Eines, das mehr herausfordert. Aber auch eines, das möglichst ähnlich ist. Schwerer halt, dass man sich besser fühlen kann.

Also bin ich auf 3D über gegangen. Ist irgendwie cooler, trainiert das räumliche Vorstellungsvermögen und damit das ältere Gehirn. Also das total Richtige.

War interessant. Ein paar Tage lang. Als ich mir dann irgendwann einen Zeitbonus von einer dreiviertel Stunde eingespielt hatte, wurde es schon langweiliger, auch wenn ich am Ende nach diesen einzigen zwei Steinen suchen musste, die zusammen passten, war alles ganz bequem. Ich hätte ein Nickerchen zwischendurch machen können und wäre am Ende doch noch gelobt worden. Ende bei Level zehn.

Wie blöd und langweilig.

Aber dann fand ich dieses schwarz-weiße Dingens. Das muss das alte Gehirn erst einmal kapieren. Den weißen Stein mit diesem einen Motiv killst du nur mit dem schwarzen Stein mit dem gleichen Motiv. Klingt einfach, aber das menschliche Gehirn ist ein eigen Ding. Konträres Denken als richtiges Denken … Sie verstehen. Muss Mensch lernen, der ältere gleich gar.

War ärgerlich, das jedes Mal über die Levels hinweg zu kriegen, die echt schwer waren. Und war blöd, jedes Mal von vorn anfangen zu müssen, um dann bei den gleichen Levels wieder hängen zu bleiben.

Bis, Juchu!, das Spiel oder mein Computer gelernt hatte, immer wieder da einzusteigen, wo ich aufgehört hatte. Mal von der kleinen Schlappe neulich, als ich den falschen Button und auf „Neu anfangen“ drückte, abgesehen.

Seither schaue ich genauer hin, ehe ich irgendwo drauf drücke. Was nichts daran ändert, dass ich hänge. Auf Level 24. Und zwar schon seit Tagen. Level 24 von 40. Was einiges für die Zukunft verspricht. Schließlich sind die anderen Mahjong-Spiele inzwischen ziemlich langweilig.

Ich frage mich, wie lange das wohl anhalten wird. Wird das wohl reichen bis ans Ende meiner Zeit? Und … wird mich das wirklich vor Demenz bewahren? Oder gehe ich mit Level 24 geradewegs in die Demenz?

Broken Windows

oder: I can`t breathe 2014

Als 1982 Wilson/ Kelling ihre Theorie veröffentlichten, dass erste Anzeichen der Verwahrlosung wie zerbrochene Fensterscheiben, so sie nicht behoben werden, imnu einen ganzen Rattenschwanz an Verwahrlosung und letztlich Kriminalität nach sich zögen, hielten das viele für so schlüssig, dass man seitens der Polizei eine Nulltoleranzstrategie als nützlich ansah.

Bill Bratton, 1994 zum New Yorker Polizeichef berufen, setzte diese Strategie radikal ein, um wieder Ordnung auf die Straßen seiner und später anderer Städte zu bringen.

Wer ein Bier auf der Straße trank, sein Autoradio zu laut hatte oder in der U-Bahn schwarz fuhr, musste ab nun mit rigider Ansprache und sogar Festnahme rechnen.

Zwar wurde aus der amerikanischen Polizei dank dieser Strategie und aufgestocktem Personal kein „Freund und Helfer“, aber das Gefühl der Sicherheit wuchs wieder und sehr bald konnte man sogar eine Verbesserung der Kriminalstatistik* vorweisen.

Dass dabei gelegentlich und immer wieder „Unfälle“** geschahen, war nicht nur der Akzeptanz dieser Methode zu verdanken, sondern auch der reichlich kurzen, dafür strengen Ausbildung der Ordnungshüter.

Gelegentlich lese ich in letzter Zeit, man wünschte sich eine ähnliche Vorgehensweise hierzulande. Um all dieses „Grobzeuch“ zur Räson zu bringen, das da allen möglichen Ärger auf unseren Straßen veranstaltet.

George Floyd war nicht der Erste und nicht der Letzte, der nicht mehr atmen konnte und letztlich starb. Und man darf sich schon fragen, ob die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung jedes Mittel und jedes Opfer wert ist.

Darüber hinaus aber sollte man sich fragen, ob diese Vorgehensweise gegen die eigene Bevölkerung wirklich noch mit Recht und Ordnung zu tun hat. Denn die, glaubt der kleine, naive Demokrat, hätte ja dann auch etwas mit der Polizei zu tun.

Dem Polizisten, der Eric Garner mit dem damals bereits verbotenen Würgegriff nieder rang und schließlich – ohne auch nur den Versuch einer Wiederbelebung – zu Tode brachte, geschah juristisch nichts.

Und auch die Polizeistatistik, der es seither so gut zu gehen scheint, steht in Zweifel. Zum Einen, weil angenommen wird, dass eben wegen dieser harten Vorgehensweise gegen übrigens hauptsächlich Mitglieder der Minderheiten eine nicht unbegründete Scheu vor Anzeigeerstattung besteht ( Ein Vergewaltigungsopfer berichtet, sie sei so hart befragt und jede ihrer Antworten derart in Frage gestellt worden, dass sie letztlich ihre Anzeige aus Angst vor weiteren Anschuldigungen zurück gezogen habe.), zum Anderen, weil Kriterien für die Aufnahme in die Kriminalstatistik stark geändert worden seien. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt.

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In diesem Zusammenhang sollte auch Pillip Zimbardo nicht unerwähnt bleiben. Wer seinen Namen nicht kennt, kennt jedoch sein Stanford-Prison-Experiment, bei dem Studenten sich als Gefangene und Wächter eines fingierten Gefängnisses zur Verfügung stellten. Das katastrophale Ergebnis wurde verfilmt und ging ebenso wie das Milgram-Experiment (das am Rande des Films „I wie Ikarus“ auch Erwähnung findet) in die Psychologie-Geschichte ein. Beides als vermeintlicher Nachweis dafür, dass Menschen in ungünstiger Umgebung immer ihre schlechtere Seite zeigen.

Zimbardo hat, was bei Milgram sehr wohl erkennbar wird, in seiner Experiments-Dokumentation zu erwähnen vergessen, dass die Wächter-Probanden extrem unter Druck gesetzt wurden, sich so zu benehmen, wie sie das letztlich taten. Lust hatten sie dazu keine, wie auch bei Milgram die „Lehrer“ zu einem großen Anteil die von ihnen (vermeintlich) erteilten Stromstöße nicht richtig fanden

Man darf sich fragen, wie erfolgreich Experimente sind, deren Resultate nur durch Druck in die gewünschte Richtung gehen. Und man darf sich auch fragen, von was für einem Menschenbild derlei Experimente ausgehen.

*https://idw-online.de/de/news629817

**https://de.wikipedia.org/wiki/Todesfall_Eric_Garner

https://www.focus.de/panorama/welt/auch-sie-riefen-i-can-t-breath-neue-videos-von-toedlichen-polizeieinsaetzen-aufgetaucht_id_12090030.html

Und beim nächsten Mal erzähle ich, wie die USA beinahe(!) so menschliche Gefängnisse wie die Norweger bekommen hätten, dank Zimbardo aber nicht bekamen, dieser aber den Folter-Knecht von Abu-Ghraib nach Kräften verteidigte.