Als er noch dort war, hatte er Macht, weil er Dinge besaß, die andere nicht hatten. Er konnte sich Wohlwollen erkaufen und den einen oder anderen Vorteil. Als er von dort weg ging, auf die andere Seite, kam er in einen winzig kleinen Laden und sah, dass all das nun keine Rolle mehr spielte. Weinend brach er vor dem Spirituosenregal zusammen, nachdem er sich mit einigen kräftigen Schlucken davon überzeugt hatte, dass der russische Wodka echt war.
„Es ist alles da!“, wimmerte er und mag sich gefragt haben, warum ihm in all den Jahren all die Entbehrungen auferlegt worden sind.*
Nein, ich rede nicht von Deutschland Ost und West und der Mauer, deren Bau sich morgen zum 60. Mal jährt. Obwohl sich da zuweilen ganz ähnliche Szenen abgespielt haben. Menschen aus dem Osten erstarrten vor dem überbordenden Angebot in den Supermärkten und brachen in Tränen aus.
Hernach mag man sich gefragt haben, wozu man zwanzig Sorten Nudeln braucht (Ahja, inzwischen haben wir verstanden: Es gibt Unterschiede!), aber zuerst fühlte man sich erschlagen. Von dieser Menge der Waren, von all dem Überfluss, von Obst und Gemüse, das man im Osten nie gesehen hatte. (Brokkoli? Was ist Brokkoli?)
Als ich zum ersten Mal im Westen einkaufen ging, hatte ich keine Zeit für solche Befindlichkeiten. Und, mal ehrlich, so schön ist Aldi damals auch wieder nicht gewesen. Ich hatte 100 Westmark für unseren ersten Familieneinkauf. Was nicht viel ist, wenn man zu viert vollkommen neu anfängt. Und, nein, das war nicht das berühmte Besuchergeld. ICH war Neubürger und bekam so etwas nicht. Mein Mann hatte das Geld verdient, ganz richtig.
Und während ich vollkommen ahnungslos durch die Regalreihen ging und ein Wundern nicht unterdrücken konnte, merkte ich, wie der Computer in meinem Kopf in Gang kam. Der registrierte, dass Brot ab jetzt richtig teuer sein würde. Die Zeiten von 2 Kilo für 1,28 Ostmark waren vorbei. Der registrierte aber auch, dass die Zeiten von 8 Ostmark für 1 Kilo Kaffee oder Bananen auch vorbei war.
Ich schätze, nur wenige derer, die in diesem System schon immer gelebt hatten, waren sich dessen bewusst, was wir Ostdeutsche in dieser Zeit alles lernen mussten. Denn das Einkaufen war nur ein Anfang. Es ging weiter mit der Wahl einer Krankenversicherung und der verabschiedeten Idee vom billigen Wohnen. Im Westen zahlten wir das Zehnfache der Ostwarmmiete als Kaltmiete, verdienten aber nicht das Zehnfache.
Im Gegenteil nahm man die pfiffigen, im Improvisieren geübten Ostdeutschen gern als billige Arbeitnehmer, die es noch nicht gelernt hatten, um Löhne zu verhandeln. Die hatten schließlich den Vorzug, keinen Sprachkurs besuchen zu müssen. Und die meisten waren willig, auch wenn kurze Zeit nach der Wende das Gerücht umging, „die da drüben hatten doch keine Ahnung, was Arbeiten bedeutet“. Schwarze Schafe gibt es überall. Und die schwarzen Schafe waren halt jene, die im Osten nichts zu verlieren hatten und deswegen zuerst da waren.
Aber es war auch günstig, den Mythos des arbeitsungewöhnten Ostdeutschen zu pflegen, ebenso wie es günstig war, die mitgebrachten Qualifikationen anzuzweifeln. Mein Studienabschluss wurde erst zehn Jahre nach der Wende anerkannt. Da hatte ich schon eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen, was hieß: wieder von ganz unten anzufangen.
Kollegen, die eben genau diese zehn Jahre jünger waren, fragten sich später, warum sie so mühelos auf der Karriereleiter an mir vorbei gerutscht sind. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“, antwortete ich da. Wenngleich ich angesichts der vielen „Diplommelker“ etc. aus russischen Arbeitsbüchern, die ich in dieser Zeit übersetzte, gewisse Zweifel nachvollziehen kann. Aber wir hatten wirklich studiert, was festzustellen keine Raketenwissenschaft war und ganz gewiss keine zehn Jahre gedauert hat.
Warum mir, nach nunmehr mehr als 30 Jahren all diese Dinge in den Kopf kommen?
Da braucht bloß einer zu kommen und zu sagen: „Es ist alles da!“
Und dann IST es wieder da.
Und, danke der Nachfrage, es geht mir gut. Ich habe trotz allem nichts bereut. Denn im Gegensatz zu vielen anderen, die sich freiwillig so nicht entschieden haben, bin ich diesen Schritt bewusst und eingedenk mancher zu erwartender Schwierigkeiten gegangen.
- „Ascension“ (ARD Mediathek)