„Mal ein richtiger Jugendlicher sein!“
Ja, gut, ok. Der Zug ist abgefahren. Und sowieso fragt sich, was an der Jugend ist „richtig“?
Jeder machts auf seine Weise. Und die Meisten denken hinterher, eine ganze Portion davon sei verkehrt gewesen. Wie wir sowieso oft denken, dass manches anders besser gewesen wäre.
Aber letztlich ist das Problem doch ein anderes: Unter vielen Möglichkeiten wählen wir aus. Und werden womöglich irgendwann unzufrieden, so dass wir glauben, eine von den vielen nicht gewählten Möglichkeiten hätte besser gewesen sein können. Ohne uns dessen bewusst zu sein, dass wir im Falle der Wahl einer dieser anderen Möglichkeiten irgendwann nicht minder unzufrieden geworden wären.
Wer kann schon wissen, was wirklich richtig ist oder gewesen wäre?
Ein großes Thema dieser unserer Zeit ist ja die Wahrheit. Die so schwer zu greifen ist. Meine durchaus tiefsinnige Nachbarin und ich diskutierten vorhin, zugestandenermaßen unter dem Einfluss von zwei bis drei Glas ziemlich guten Rotweins über die Frage der Wahrheit, die wir letztlich an der Perspektive festmachten. Sie, auf ihrer Seite des Tisches, hatte wahrscheinlich eine ziemlich andere Wahrnehmung der Dinge als ich. Gleichwohl hielten wir beide unsere Perspektive für wahr, real, richtig oder was auch immer.
Wenn also, was bei meinen Musik liebenden Nachbarn ein großes Thema ist, Placido Domingo vor 40 Jahren einer Frau zu nahe getreten ist, was selbige erst vor kurzem öffentlich machte, darf man sich fragen, wer von beiden was wahrgenommen und durch den Filter von Zeit und geänderten Wertvorstellungen inzwischen vollkommen anders eingeordnet hat. Denn, hätte die Dame die Sache damals ebenso schlimm gefunden wie offenbar heute, hätte sie doch damals schon drüber sprechen müssen.
Die Wahrheit wurde also inzwischen gefiltert, relativiert, dem aktuellen Zeitgeschehen angepasst.
Ich kenne die Dame nicht. Ich weiß nicht, was passiert ist. Wie ich auch nicht weiß, was bei allerhand anderen Frauen in diversen metoo-Threads tatsächlich passierte und was sie hinterher draus machten.
Ich weiß aber, dass auch ich wilde Zeiten hatte und mich hernach schämte und gehofft hätte, der eine oder andere Kerl wäre weniger leichtsinnig gewesen als ich. Kann ich aber jemanden den Vorwurf machen, dass die Kerls genauso dumm waren wie ich? Und dabei gehörte ich nicht zu jenen, die sich aus ihrem Tun einen Vorteil versprachen.
Verstehen Sie mich Recht: Mir ist durchaus bewusst, dass es Zeiten gab, in denen Frauen nicht nett behandelt wurden. Und da rede ich nicht davon, dass weibliche Sexualität als „Hysterie“ und krankhaft angegangen wurde. Das habe ich nicht mehr erlebt. Aber ich kannte jede Menge, die Frauen gering schätzten und als alles Mögliche abtaten, nicht jedoch als gleichwertige Menschen. Das hat es gegeben. Und es wäre dumm, das klein zu reden.
Aber ich weiß auch, dass mir nie etwas passiert ist, an dem ich nicht auf die eine oder andere Weise selbst Anteil hatte. Sehr bewusst rede ich nicht von Schuld, denn im einvernehmlichen Handeln gibt es keine Schuld.
So oder so jedoch würde es mir nie in den Sinn kommen, Unbehaglichkeiten, die sich nach Jahrzehnten, durch den einen oder anderen Filter betrachtet, ergeben, als Schuldvorwurf hinzustellen. Nicht nur, weil es eine Schande denen gegenüber ist, die wirklich und ernsthaft Gewalt erfahren haben.
Ohnedies finde ich es erstaunlich bis erschreckend, dass und in welchem Maße sich neuerdings die Opferrolle allgemein etabliert hat. Jeder, dem irgend etwas nicht genehm war oder ist, stellt sich heutzutage als Opfer dar. Frauen, die den einen oder anderen Zugriff damals zwar hinnahmen, heute aber nicht mehr tolerieren würden, Menschen, die wegen ihrer Meinung oder ihres Verhaltens nicht allgemein bejubelt werden, viele von ihnen beklagen sich wie schlimm das Leben ihnen mitspielt.
„Mal ein richtiger Jugendlicher sein!“?, nein, werdet endlich erwachsen!