Unser Bildungssystem, las ich heute, sei am Ende. So sehr, dass Begriffe wie Intelligenz, Wissen, Bildung verschwimmen und total beliebig sind.
Und dennoch geht dieser Mangel wovon auch immer einher mit dem erstaunlichen Effekt, dass viele Menschen mit ungebrochenem Selbstbewusstsein ihre vermeintlich persönlichen Erkenntnisse in die Welt hinausblasen, ohne jegliche Vermutung, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Angesichts des Bildungswissens, dass es mit der Wahrheit eine schwierige Sache ist, mutet es erstaunlich an, wie viele Menschen dennoch der Meinung sind, in ihrem Besitz zu sein. Und zwar interdisziplinär.
Vorgestern noch Fachleute für Frauenrechte und Migrationspolitik, gestern Fachleute für Virologie, heute solche für Strategie, Taktik und internationale Verknüpfungen.
Man kann sich fragen, ob nun das mit der verfehlten Bildungspolitik stimmt und die Möglichkeit, im Internet jederzeit auf einen riesigen Wissensfundus zugreifen zu können, zu der Annahme verleitet, man habe sich dieses Wissen durch ein paar Klicks bereits zu Eigen gemacht. Oder ob mit einem Mal alle so gescheit geworden sind.
Wirklich ist es ja einfach, einen Suchbegriff einzugeben und dann zu schauen, was sich da findet. Und manche Erklärungen wirken auch eingängig, faktenbasiert und volksnah. So dass man glauben könnte, die Weisheit der ausgewiesenen Fachleute sich in höchstens einer halben Stunde zu Eigen gemacht zu haben. Halt bloß: Sind das auch Fachleute oder tun die nur so? Denn im Netz schreiben kann jeder. Eigentlich sollte man dann noch recherchieren, wer dieser Mensch, der das geschrieben hat, denn ist. Aber auch das führt nicht sonderlich weit, wenn ich die Hintergründe nicht habe. Der hat studiert. Aber hat er auch genau das Fachgebiet studiert? Und ist im Zusammenhang mit eben diesem Gebiet ausschließlich Bücherwissen hilfreich?
Oder anders: Der war dabei. Dann muss er doch Bescheid wissen. Aber wo hat der gestanden, mit wem gesprochen, was gesehen und hat er das Gesehene auch richtig gedeutet?
Wir kennen das ja von Zeugenaussagen: Das Fluchtfahrzeug war grün, blau, braun und schwarz. Und einer will sogar ein weißes gesehen haben.
Hinzu kommt, was bei einem Verfall der Bildung ja nicht von der Hand zu weisen ist, „da(ss) der Mangel an Kompetenz mit der Unwissenheit dieses Mangels einhergeht“. Soll heißen: Wenn ich keine Ahnung habe, könnte ich die Klappe halten, kann aber vermittels des schnell mal im Netz erworbenen Scheinwissens auch so tun (und mich so fühlen), als wäre ich in dieser Sache wunder wie gescheit. Das führt nicht selten zur Fehleinschätzung der eigenen Kompetenz. (1)
Seit ein paar Jahren beobachten wir eine gewisse Verbissenheit der Diskussionen im Netz.
Menschen, die sich Jahrzehnte lang im Grundgerüst ihres Lebens mehr oder weniger zufrieden eingerichtet hatten, entdeckten das Netz für sich und auch das Weltgeschehen.
Sie mussten sich nun nicht mehr hinaus bewegen, um Interessengruppen zu treffen, zu Demonstrationen zu gehen oder überhaupt mit fremden Menschen in Kontakt zu treten. Sie setzten sich daheim vor ihren PC und traten mit der Welt in Kontakt. Und siehe: Die Welt war schrecklich.
Es gab dort Politik. Und Menschen, die uns das Unsere wegnehmen wollten. Ungeahnte Gefahren, Bösartigkeiten, Hinterhältigkeiten, Gemeinheiten und … das Fremde. Das sie nicht verstanden und auch nicht verstehen wollten, denn das Fremde sollte dort bleiben, wo es hin gehört: in der Fremde. Wo man selbst keinesfalls hin und mit dem man nichts zu tun haben wollte.
Was so ähnlich ist wie: Der Strom kommt aus der Steckdose.
Denn, ob wir das wollten oder nicht; wir h a t t e n schon mit all dem zu tun, auch wenn wir es bis dahin nicht wahrgenommen hatten.
Vielleicht wird sich der Eine oder Andere gedacht haben, dass er dann noch mehr wissen muss. Und hat sich auf die Suche begeben. Das Netz ist groß und wo fängt man an? Natürlich bei denen, die etwas von sich geben, das dem eigenen Bauchgefühl ziemlich nahe kommt. Die sind oft freundlich und teilen ihre Wissensquellen, auf denen der solcherart Suchende dann fündig wird. Und bestätigt bekommt, dass die Welt … Gefahren, Bösartigkeiten, Hinterhältigkeiten, Gemeinheiten und … das Fremde – eh schon wissen. Und da steht dann auch, WER an all dem Elend Schuld ist: Die Fremden sind immer wieder gern genommen. Egal, woher übrigens, denn gut sind nur wir selber. Und die Politiker und die Eliten (wer auch immer das ist; gerne Studierte, aber nicht die eigenen Verwandten und Bekannten, denn gut sind nur wir selber) und die NGOs (aber nicht die eigenen …) undundund …
Heraus kommt ein Riesen-Lamento (für die Nicht-Studierten: „lautes Gejammer“ im Unterschied zum „Musikstück von schmerzlich-leidenschaftlichem Charakter“) und der Eindruck, von allen Seiten verfolgt zu werden. Denn vielen dieser von Internet-„Freunden“ empfohlenen Seiten ist es immanent, dass Feindbilder inner- und außerhalb der eigenen Gesellschaft aufgebaut werden (die Verantwortlichen für unser Elend, das wir vor dieser Zeit, als wir noch nicht aufgewacht waren, gar nicht empfunden hatten). Und weil man nun, völlig verwirrt und doch in der Hoffnung auf Erlösung, viele von diesen Seiten liest, ja lesen muss, werden der Feinde immer mehr. Und man möchte nicht nur einen Aluhut aufsetzen, sondern sich am Liebsten im Wald in einer Höhle vergraben, Vorräte für ein Jahr anlegen, sein Wild selbst schießen und nach dem Jahr sehen, was aus der Welt geworden ist. Mindestens aber vermutet man elektronische Manipulierchips in der Impfung.
„Wissen sie, was die uns ins Trinkwasser tun? Fluorid, ja, Fluorid. Unter dem Vorwand, dass es ihre Zähne stärkt. Das ist lächerlich! Wissen Sie, was dieses Zeug mit ihnen macht? Tatsächlich schwächt es ihre Willenskraft! Es nimmt Ihnen die Fähigkeit, frei und kreativ zu denken und macht sie zum Sklaven des Staats!“ (2)
Und wirklich stimmt es:
Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lang nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind.
Man kann nie wissen.
Aber man kann zuversichtlich bleiben.
(1) Zitat: Wiki Dunning-Kruger-Effekt
(2) „Fletchers Visionen“