Der Tag

Ich treffe beim Einkauf die Nachbarin(77), die schon seit einiger Zeit nicht mehr so fröhlich ist wie in all den Jahren zuvor. Ich mag sie sehr, fühle mich aber hilflos, wenn sie mir verkündet, dass alt werden „Scheiße“ ist. Sie und ihr Mann(83) haben gesundheitliche Probleme. Und ich ertappe mich dabei, wie ich in allerlei Floskeln sagen möchte, dass es wieder besser wird. Aber sie schüttelt den Kopf. Es wird nicht besser. Ich fürchte, sie hat Recht.

Beim Einkauf ertappe ich mich dabei, wie ich genau auf die Preise schaue. Das hatte ich einige Zeit lang nicht nötig, bin aber letzthin erschrocken, dass am Monatsende – im Gegensatz zu allerlei Monaten vorher – vom Geld nichts mehr übrig war. Schon seit ein paar Wochen ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich sparen müsste. Für die Heizkosten-Nachzahlung, für die Steuernachzahlung, überhaupt für manche Unbill, die auf mich zukommen mag. Ich hatte ganz vergessen …

Dennoch kaufte ich mir diese Schuhe, die ich vor drei Jahren schon probierte, sie aber der falschen Farbe wegen nicht kaufte. Ich erinnere mich, wie der Ladeninhaber, der sich sehr um mich bemühte, damals sehr verärgert war. Ich habe den Laden seither gemieden, weil ich solche Albernheiten nicht mag. Misserfolg gehört zum Verkaufsgeschäft. Und ich tat das damals ja nicht, um ihn zu ärgern. Jetzt standen sie in der richtigen Farbe da, waren zwar nicht das, weswegen ich in den Laden gegangen war; es schien mir aber die einzige und vielleicht letzte Gelegenheit, sie zu bekommen. Sie kosteten irgendwas zwischen zwei- und dreimal so viel wie die Schuhe, die ich üblicherweise trage.

In meinem Flur stehen Müllsäcke mit Kleidung, die ich aus meinem Kleiderschrank aussortierte, manche noch nie getragen. Manche wiederum trug ich gern, meine aber, das Alter und/ oder die Figur dafür nicht mehr zu haben. Dass ich in den letzten Tagen bei Pinterest sah, was man aus alter Kleidung noch alles machen kann, macht die Sache nicht besser. Ich fange an, in diesen Säcken herum zu wühlen, obwohl ich weiß, dass die Tage neuerdings so schnell vorbei sind. Wann genau möchte ich all die Dinge tun, die ich mir so vornehme, da ich es ja nicht einmal schaffe, eine Sache (Schränke auszusortieren), die ich früher in ein zwei Tagen tat, in ein paar Wochen zu tun? Andererseits möchte ich glauben, dass ich noch sehr viel Zeit habe.

Im Netz vergleicht einer Scammer (also die Typen aus der dritten Welt, die Frauen hier abziehen) mit Dealern und Vergewaltigern. Ich kann nicht glauben, dass Frauen, die etwas freiwillig tun, genauso zu betrachten sind, wie Frauen, die vergewaltigt werden. Und wie ist es mit den Drogen? Ab wann nimmt man die nicht mehr freiwillig und wie viel Schuld trägt man, dass man sie überhaupt erst einmal zu nehmen anfing?

Draußen auf dem Spazierweg liegt die Nachbarschaftskatze. Ein roter Tiger, der jedem hinterher schleicht, der sich hier in der Umgebung bewegt. Sie sieht genauso erschöpft aus wie wir alle in diesen Tagen. Fast komatös liegt sie auf dem Weg. Bis ich ihr ein Stückchen von meinem Fleisch (Hähnchen), das ich mit ihr teile, herunter werfe. Sie springt sofort los.

Die vier edlen Wahrheiten

Im letzten Blog schrieb ich von meinem Weg bei der Erkundung der Religionen. Nur, weil wir Mitteleuropäer traditionell Christen sind (was ich zu Beginn dieses Weges nicht war), bedeutet das nicht, dass wir nicht auch für andere Wege offen sind.

Und weil es mir als Nicht-Christin schwer fiel, an irgendeinen personifizierten Gott zu glauben, ich überdies bereits damals (heute redet ja jeder davon) eine tiefe Verantwortung für meine Mitgeschöpfe empfand, breitete sich der Buddhismus vor mir als praktisch einzig gangbarer Weg aus. Auch und gerade, weil das Beherrschen der eigenen „Leiden“ im Grunde einziges Ziel im Leben sein kann.

Wer sich nicht dessen bewusst ist, dass das Leben in allerlei Variationen Enttäuschungen und Schmerz für uns bereit hält, die es zu händeln gilt, hat das Leben nicht verstanden.

Soweit die Theorie.

Die Praxis sieht natürlich anders aus. Das merkte ich, als ich gestern mein Mail-Postfach öffnete und eine kryptische Botschaft meines Fernsehanbieters V…a.fon vorfand, der eine andere voran gegangen war, aus der ersichtlich wurde, dass dieser seine vermeintliche Forderung an mich an seinen hauseigenen Inkasso-Dienst abgegeben und noch einmal ordentlich Gebühren drauf geschlagen hatte.

Ich hatte wirklich angenommen, die leidvolle Geschichte unserer Trennung ließe sich mit Anstand regeln. Der Dauerauftrag war bis zum Schluss gelaufen, das „Leih“-Gerät hatte ich zurück gesandt.

Aber nein, da flatterte nun noch einmal eine Rechnung von 100 Euro ins Haus.

Ich spürte, nachdem ich verstanden hatte, wie mein Blutdruck ins Unendliche schoss. Was insgesamt, jedoch am Abend noch weniger, nicht gesund ist. Aber ich hatte mich an die buddhistische Gelassenheit erinnert.

Ich lief ein paar Mal durch die Wohnung, betrachtete mir den immer klarer werdenden Himmel, genoss die kühle Luft nach all den heißen Tagen. Ich begann mich wieder gut zu fühlen und arbeitete an meiner Gelassenheit.

In meinem Kopf breitet sich der Gedanke aus, dass 100 Euro ein vergleichsweise geringer Preis ist, wenn ich damit diesen unerfreulichen Vertragspartner nun endlich los würde. Im Geist füllte ich die Überweisung aus und spielte mit dem Gedanken, eine kurze Nachricht zu schreiben, dass meine Zahlung nicht gleichbedeutend mit einem Forderungsanerkenntnis ist.

Ich habe gut geschlafen und pflegte die ersten paar Stunden des heutigen Tages weiterhin den beruhigenden Gedanken, dass mit der Zahlung des Betrages alles vorbei sei und ich mit frischem Kopf in die von V…n getrennte Zukunft blicken könnte.

Nur zur Sicherheit (Ich verhehle nicht, dass der kleine Bürokrat, der mit der Berentung nicht aus meinem Kopf verschwunden ist, dies von mir forderte.) sah ich im Netz noch einmal nach, um festzustellen, dass eine Zahlung einem Schuldanerkenntnis gleich kommt. Wozu ich nicht bereit war. Dass Leben Leiden ist, bedeutet nicht, dass ich mich bis in alle Ewigkeit mit irgendwelchen geldgierigen Betrügerunternehmen herumschlagen will und werde.

Ihr Mistkerle, Drecksäcke, euch werde ich es zeigen!

In Gleichmut übe ich mich ab nächster Woche.

My Sweet Lord

Als sich die Beatles trennten, war ich 12 und vergoss bitterliche Tränen, weil ich glaubte, dass nie wieder jemand solch großartige Musik machen würde wie sie.

Jaja, ich weiß, mit 12 war ich eigentlich zu jung für solche Befindlichkeiten. Aber ich hatte große Geschwister, die schon in manchem Jahr zuvor diese Musik mit Begeisterung gehört und danach getanzt hatten.

Zum Glück kamen danach die Soloalben, die ganz anders, aber auch GUT waren.

Ich hörte sie an den Wochenenden, wenn mein Bruder, der zu Hause studierte, zu seiner Frau fuhr und das „Kinderzimmer“ für mich frei machte. Sein Kofferradio empfing den „Soldatensender“, der etwas von RIAS hatte, aber (wie wir später erfuhren) ostdeutsch war und nur zu bestimmten Zeiten sendete. Mitten in der Nacht. Was schwierig war, denn damals hatten wir noch keine Kopfhörer. Und natürlich schlief ich irgendwann ein und die Batterien waren am Morgen leer. Und der Bruder, nach dem Wochenende, schimpfte mörderisch.

Aber George Harrison, der bis dahin nie wirklich zur Geltung gekommen war, sang vom Herrn. Und zwar auf so schöne Weise, dass ich mich für Religionen zu interessieren begann. Für eine nicht unerhebliche Zeit.

Seither habe ich einiges gelesen aus mancherlei Religion. Und bin, sieht man einmal vom Buddhismus ab, der mir irgendwie am Schlüssigsten erscheint, noch immer ein unreligiöser, jedenfalls Gott-freier Mensch.

Dennoch ahne ich, welche Reise die Beatles in dieser Zeit gemacht haben. Auch sie waren, aus heutiger Sicht, nur wenige Jahre älter als ich, auf der Suche. Wie viele zur damaligen Zeit.

Ich weiß nicht, was sie gefunden haben. Ich kann sogar nur unbestimmt sagen, was ich gefunden habe.

Aber ich weiß inzwischen, dass wir alle suchen.

Wenn wir Glück haben, finden wir etwas, das uns gut tut.

Andere finden ihr Glück darin, gar nicht erst zu suchen, nicht in dieser Richtung.

Aber jedem sei irgend ein Glück gegönnt.