Im Land des Lächelns

Ich gehörte nicht zu den Kindern, die sich mit dem Lesenlernen schwer taten. Im Gegenteil konnte ich es gar nicht erwarten, Zugang zu dieser Welt zu bekommen, die den Rest meiner Familie über wesentliche Teile ihrer Zeit so beschäftigte.

Und sobald ich es konnte, las ich viel. Die Bibliothekarin, zu der mich meine Mutter mitnahm, sobald die zu Hause vorhandenen Bücher nicht mehr ausreichten, zweifelte anfangs, dass die vier Wochen Ausleihfrist reichen würden für die Stapel, die ich ihr jeweils vor die Nase packte. Aber wir bekamen nie ein Problem miteinander.

So waren Geschenktage (Geburtstag und Weihnacht) für mich nur dann perfekt, wenn ich Bücher geschenkt bekam, mit denen ich mich so bald als möglich in irgendeine Ecke zurückziehen konnte.

An diesem einen Weihnachten kam meine Großmutter, die mir beileibe nicht so nahe stand, wie man es sich von Omas wünschen würde, und schenkte mir Bücher aus der Kränzchenbibliothek. Es war, denke ich, das erste Mal, dass ich mit alter Schrift (Fraktur? Jules hilf!) zu tun hatte. Und ich kann mich nicht an großartige Schwierigkeiten damit erinnern, obwohl ich später hörte, dass andere DAS nicht lesen könnten. Die Druckschrift zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ja immerhin so viel leichter als dieses Sütterlin, von dem meine Mutter gelegentlich sprach. Ein paar Zeichen muteten merkwürdig an, ihr Sinn jedoch ergab sich meist so schnell, dass ich darüber nicht groß nachdachte.

Als kleines Mädchen, ich war, denke ich, neun oder zehn, denkt man nicht sonderlich darüber nach, wie anders die in den Büchern geschilderten Welten doch waren. Schließlich war die eigene auch noch ziemlich klein. Aber ich staunte, was Kind so erleben kann. Wenn es mit seiner Familie in andere Teile der Welt umzieht (Japan) oder in anderen Zeiten in Deutschland in einer armen Familie aufwächst. Ich erfuhr, was eine Rotunde ist, was einerseits bei Google heute nurmehr als architektonische Besonderheit aufgeführt wird, andererseits eine Website mit Damenmänteln aufploppen lässt.

Und nebenher bekam ich übermittelt, dass Kinder unbedingt gehorsam zu sein hatten, was ich mit meiner eigenen Denk- und Erfahrungswelt nicht unbedingt in Einklang bringen konnte. Wir waren anders erzogen, stießen uns aber nicht daran, dass es irgendwann anders als bei uns gewesen ist.

Insofern lernten wir mehr Toleranz als ich es unserer heutigen Zeit zuschreibe, wo jeder meint, die Dinge müssten so sein, wie sie seiner Erfahrungswelt entsprechen.

Kurzum: Ich lernte durch diese alten Bücher, dass es andere Zeiten und andere Welten gibt und gab, wodurch die meine nicht einbrechen muss. Und ich empfand diese Erfahrung durchaus als Reichtum, denn wer, bitteschön, hat sich mit neun oder zehn Jahren (auch heute) schon intensiv Gedanken über so ein Land wie Japan beispielsweise gemacht?

Später war ich via Kinderbuch in Timbuktu und erfuhr vom Islam und Ländern, über die wir uns erst heute so richtig Gedanken machen. Ich war nicht sehr mutig, weshalb ich nicht überall hin wollte, aber dieser Islam interessierte mich schon. Heute kann frau ja niemandem mehr sagen, dass man vor 50 Jahren darüber nachdachte, Muslima zu werden. Dabei fand ich diese Religion durchaus erstrebenswert und sah auch keinen Unterschied zwischen Männer und Frauen in dieser Hinsicht. Der damals vielleicht (wenn man sich so die islamischen Länder von damals betrachtet) auch gar nicht bestand.

Wir haben unser Bild von den Dingen und nehmen das mit in unsere alltägliche Betrachtung. Ob die oder das richtig sind und stimmen; wer weiß das schon? Aber wir sollten immer in Betracht ziehen, dass wir nicht alles wissen.

Inzwischen lese auch ich nicht mehr so viel. Nicht nur, weil ich ein paar Jahre lang Augenprobleme hatte, sondern auch, weil es viel angenehmer ist, zu schauen oder mindestens sich vorlesen zu lassen.

Vor einiger Zeit hörte ich ein Buch, in dem (was zu meinem Interesse für das Weltall passt) Menschen hinaus geflogen sind bis an den Rand unseres Sonnensystems. Und dann nicht weiter kamen.

Schließlich nahm eine außerirdische Intelligenz mit den Raumfahrern Kontakt auf und erklärte ihnen, dass alles, was sie sähen bzw. zu sehen glaubten, eine Illusion sei. Geschaffen von Außerirdischen, die darauf achteten, dass neue Zivilisationen all diesen anderen Galaxien keinen Schaden zufügen könnten.

Daran muss ich manchmal denken, wenn ich sehe, wie sehr sich unser Bild vom Kosmos in den letzten Jahren geändert hat.

Wir wissen gar nichts, denke ich dann, und im nächsten Jahrzehnt kann alles schon wieder ganz anders ausgedeutet werden. Aber wir werden nie aufhören, nach der Wahrheit zu suchen.

6 Gedanken zu “Im Land des Lächelns

  1. Eine feine kleine Lesebiografie!
    Interessant auch die Sache, wo die im All nicht mehr weiterkamen!
    Ich kannte mal einen, der ist immer umgekippt, wenn er auch nur das Wort „Unendlichkeit“ hörte…
    Gruß von Sonja

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  2. Kränzenchen -Bibliothek musste ich googeln.
    Wikipedia: „Die Kränzchen Bibliothek war eine Mädchenbuch-Reihe des Verlags Union Deutsche Verlagsgesellschaft, die von 1899 bis 1934 erschien.“ In dieser Zeit waren die Bücher vermutlich in Fraktur gedruckt.

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